Wenn Alexander und seine Freunde beim Rollenspiel zusammensitzen, ziehen Elfen und Magier durch neblige Wälder um sich den finsteren Mächten aus der Unterwelt zu stellen

Kerzen flackern auf einer langen Holztafel, eine Kanne Tee dampft gemütlich vor sich hin und im Hintergrund erklingt leise Musik aus dem „Herrn der Ringe“. Am Tisch sitzen vier junge Leute, die geheimnisvolle Karten zurechtlegen, verheißungsvoll mit Papieren rascheln und unzählige bunte Würfel aus Ledersäckchen zaubern. Wie jeden Mittwoch Abend haben sie sich zusammengefunden, um sich für ein paar Stunden in die mystischen Welten des Mittelalters zu begeben. Nicht mit einem feurigen Flux-Kompensator oder durch ein schwarzes Loch, sondern ausschließlich mit Hilfe der Vorstellungskraft.

Ihre Art zu reisen nennt sich Rollenspiel und macht es ihnen möglich, spannende und gefährliche Abenteuer zu bestehen, ohne sich körperlich vom Spieltisch wegzubewegen. Sie schlüpfen lediglich in alle möglichen Rollen und lassen ihrer Fantasie freien Lauf, ungefähr so wie bei einer Theatergruppe. Auch hier gibt es so eine Art Regisseur, den Spielleiter, der als einziger das Drehbuch – also die Abenteuergeschichte – kennt. Bevor das Spiel beginnt, muss sich jeder Spieler auf einen Charakter, also eine Rolle, festlegen, die er gerne spielen möchte. Das kann zum Beispiel ein kämpferischer Zwerg sein, eine grazile Waldelfe oder ein charismatischer Zauberer. Anhand verschiedener Attributwerte wie Stärke, Geschicklichkeit oder Intelligenz wird so vor dem Spiel festgelegt, welche Figur später mit welchen besonderen Eigenschaften zum Einsatz kommen kann. Landen die Helden in der Geschichte beispielsweise vor einer verschlossenen Tür, wird jeder auf seine Weise versuchen, diese zu öffnen – mit Streitaxt, List oder Magie.

Im aktuellen Abenteuer, das die Gruppe aus der recht populären Serie „Dungeons & Dragons“ wählte, hat sich Michael für die Figur des Priesters entschieden. Er beschreibt dessen Charakter als einen Kleriker, der nicht sehr gottesfürchtig ist. „Es ist ein sehr kantiger und temperamentvoller Charakter, aber durch seine Schwächen ist er mir auch sehr ans Herz gewachsen“, erklärt der 23-Jährige. Falk, der einen eher listigen Schurken verkörpert, fügt hinzu: „Viele meiner Charaktere sind das, was ich vielleicht gerne sein möchte. Und das geht anderen wahrscheinlich genauso. Es wäre ja auch langweilig, wenn alle dasselbe sein möchten.“ Die Runde wird ergänzt durch Andrea, die eine Natur liebende Halbelfin spielt, sowie durch eine Kriegerin und einen Hexenmeister, die an diesem Abend aber nicht dabei sind.

In einer verzwickten Lage darf ein wenig intelligenter Zwerg also bockig sein und toben, während ein weiser Magier nicht ruhen wird, bis ein diplomatischer Weg gefunden ist.

Da die Gruppe in diesen Rollen vor einiger Zeit schon einmal spielte, existiert eine Vorgeschichte, an die der Spielverlauf jetzt anknüpfen soll. Spielleiter Alexander erinnert an die Geschehnisse von damals: „Die Gruppe hat seit einiger Zeit eine Taverne, den ‚Stern des Nordens‘, im Wald bei Silbrigmond. Vorher sind sie bereits durch große Teile ihres Kontinents gezogen und haben verschiedene Abenteuer erlebt. Sie haben eine Zwergenmine besucht und dort den Zwergen geholfen, dann haben sie die Stadt Silbrigmond im Kampf gegen die Eisriesen unterstützt und von dem dafür erhaltenen Geld die Gaststätte erworben, in der sie ihr Quartier bezogen.“ All dies können wir auf einer sehr anschaulichen Fantasie-Karte an der Wand nachvollziehen, die den Kontinent Faerûn mitsamt seiner Unterwelt darstellt, auf dem die Abenteurer seit geraumer Zeit umherreisen.

Anschließend beschreibt Alexander, der die Geschichte für diesen Abend vorbereitet hat, seinen Mitspielern eindrucksvoll die aktuelle Situation, und schon sind die vier Rollenspieler wieder mitten im Geschehen: „An einem regnerischen Abend sitzt ihr in eurer Taverne am Stammtisch und unterhaltet euch bei Kerzenschein, als plötzlich die Tür aufgeht und eine fremde Person den Gastraum betritt. Durch seine Kapuze ist er kaum zu erkennen, aber ihr glaubt zu sehen, dass er keine Waffen trägt. Sein Haar ist wild und zerzaust und seine Stiefel lassen auf einen Ritt zu Pferde schließen.“ Nachdem Alexander seinen Spielern die Information gegeben hat, dass der mysteriöse Fremde ein Pergament mit sich führt, dessen Unterzeichner die Freunde um Hilfe bittet, beginnt das Agieren der Charaktere.

Denn nun müssen sie gemeinsam entscheiden, wie sie zum angegebenen Ort gelangen wollen. „Teleportieren“, „Reiten“, „zu Fuß gehen“ – die Vorschläge der Figuren sind so unterschiedlich wie ihre Eigenschaften. Deshalb müssen sie jetzt im Dialog miteinander herausfinden, wie sie das Problem lösen können – schließlich wollen sie ja gemeinsam reisen. Und das spielt sich genauso ab wie in allen reellen zwischenmenschlichen Beziehungen: mit ein wenig Streiten, ein bisschen Nachgeben und viel Verhandeln. „Das ist natürlich leicht, wenn man einen Charakter spielt, der der eigenen Person sehr nahe kommt“, weiß Alexander aus neun Jahren Spielererfahrung, „schwierig, aber auch reizvoll, wird es erst dann, wenn man Fähigkeiten verkörpern soll, die einem sonst völlig fremd sind.“

Und schon ist die schönste Diskussion im Gange – darüber, wo man für 30 Goldstücke ein Pferd herbekommen könnte oder ob sich Riesenratten zum Reiten eignen – ohne dass auch nur eines dieser Wesen real existieren muss.

Kommt die Gruppe in ihren Verhandlungen zu keinem Ergebnis, weil das Pferd zu teuer und der Weg zu weit zum Laufen ist, wird der Spielleiter einbezogen und um Rat befragt. Und schon ist die schönste Diskussion im Gange – darüber, wo man für 30 Goldstücke ein Pferd herbekommen könnte oder ob sich Riesenratten zum Reiten eignen – ohne dass auch nur eines dieser Wesen real existieren muss. Der Großteil der Handlungen bei einem Rollenspiel läuft über Gespräche zwischen Spielern und Spielleiter ab. Dabei hat jeder im Kopf eine recht genaue Vorstellung von seinem Charakter, den er jetzt entsprechend seiner Fähigkeiten handeln lässt. In einer verzwickten Lage darf ein wenig intelligenter Zwerg also bockig sein und toben, während ein weiser Magier nicht ruhen wird, bis ein diplomatischer Weg gefunden ist.

„Das ist meist gar kein Vergleich zu den Rollenspielen, die es für den PC gibt“, erzählt Andrea, „die sind doch alle nach dem Muster: Ich geh von A nach B und hau was tot, ohne einen Hintergrund oder ein schönes Rätsel. Aber genau das steht bei uns im Vordergrund: Plötzlich vor einem Rätsel oder Problem zu stehen und überlegen zu müssen: Wie löse ich das jetzt, ohne gleich die Keule auszupacken?“ Auch am Tisch kommt es zu Situationen, in denen es dem Spielleiter schwer fällt, Entscheidungen zu treffen. So könnten sich Spieler ja ungerecht behandelt fühlen, wenn ihnen ein Fluchtversuch misslingt oder sie in einem Kampf den Kürzeren ziehen. In dem Moment wird gewürfelt, es kommt also ein Zufallsfaktor ins Spiel, der um so geringer ist, je besser man sich auf die Situation vorbereitet hat. „Wir haben ganz viele dieser seltsamen Exemplare“, erklärt uns Andrea mit Blick auf die bunten Abenteuerwürfel, „mit vier, zehn oder mit zwanzig Seiten. Dadurch hat man dann eben zwanzig verschiedene Möglichkeiten, wie er fallen kann.“ Und je nach Anzahl und Art der bestandenen Prüfungen kann ein Charakter sich dann weiterentwickeln oder auch an Stärke einbüßen.

„Denkt ihr jetzt eigentlich, dass Rollenspieler alle Spinner sind?“, fragt Falk besorgt, nachdem wir uns einige Zeit nicht zu Wort gemeldet und nur gebannt den Ausführungen der Fantasy-Freunde gelauscht hatten. „Das würde doch auch zutreffen, oder?“, wirft Andrea nachdenklich ein. Schließlich gibt es viele Stimmen, die zu wissen glauben, dass die intensive Beschäftigung mit Mythen und Märchen doch immer nur eine Realitätsflucht darstellt. Für Menschen, die mit der Wirklichkeit nicht klar kommen und die sich deshalb in selbst geschaffene Fantasiewelten denken, wo sie sich ganz einfach in einen Zauberer, unbesiegbaren Helden oder cleveren Schurken verwandeln können. Warum auch nicht?

Auf der Internetseite der Gilde der Fantasy-Rollenspieler www.gfrev.de findet sich eine logische Erklärung dafür: „Im Gegensatz zum realen Leben kann man in der Pseudo-Realität des Spieles etwas gegen die scheinbar unschlagbaren Organisationen oder Unbilden des Lebens tun und man steht ihnen nicht machtlos gegenüber.“ Alexander ist außerdem überzeugt davon, dass diese Form der Auseinandersetzungen mit fiktiven Problemen und Situationen in geselliger Runde die Kommunikationsfähigkeit enorm verbessert. „Weil man immer wieder auf Leute oder eben Charaktere trifft, die ein anderes Interesse haben als man selbst. Und da lernt man dann, sich Strategien auszudenken, wie man so etwas umgehen oder auch lösen kann, um auf einen Konsens zu kommen“, erklärt er uns. Seiner Meinung nach gibt es heute immer weniger Möglichkeiten, so etwas zu erlernen, weil viele nur noch mit sich selbst beschäftigt sind und man überall nur noch Gewalt als Konfliktlösung vorgelebt bekommt. Trotz des Rollenspiels nutzen die Spieler in dieser Runde auch die Gelegenheit der allwöchentlichen Treffen, um sich auch über ganz „normale“ Dinge zu unterhalten. Dies ist ein ebenso wichtiger Aspekt dieser Treffen wie das Spiel selbst. […]

Der Text erschien in „Spiesser – die Jugendzeitschrift“, Ausgabe März 2003