Interview mit Katja Kipping

Im Sommer 2012 wurde Katja Kipping Parteivorsitzende der Linken, als sie Mutter einer fast einjährigen Tochter war. Im gemeinsamen Interview mit Anke Helle für das Familienmagazin „NIDO“ sprachen wir mit der Politikerin darüber, wie sich diese beiden Rollen miteinander vereinbaren lassen.

„Junge Väter haben es im Beruf oft noch schwerer“

Frau Kipping, als Sie im letzten Sommer Parteivorsitzende der Linken wurden, haben Sie gesagt, dass das einfacher war als einen Kita-Platz für Ihre damals sieben Monate alte Tochter zu finden. Wo ist sie heute untergebracht?

Am Ende haben wir viel Glück gehabt und einen Kita-Platz direkt in dem Haus gefunden, in dem wir hier in Berlin wohnen – aber es war ein langer Weg dahin. Ich habe in der 16. Schwangerschaftswoche angefangen zu suchen und das wirklich generalstabsmäßig geplant: Am Anfang gab es eine Tabelle mit allen Einrichtungen, die von der Lage her infrage kamen. Wir haben mit allen telefoniert und sechs besichtigt. Das dezentrale Vergabesystem ist ja völlig lebensfremd und für Kitas und Eltern extrem aufwendig. Wenn Eltern ernsthaft an einem Platz interessiert sind, müssen sie sich immer wieder melden. Aber am Ende hat es bei uns zum Glück geklappt.

Es gibt bei der Kita-Suche also keinen Abgeordneten-Bonus?

Nein, es gibt zwar eine Bundestags-Kita, aber da werden bevorzugt Kinder von Angestellten und nicht von Abgeordneten genommen. Das ist prinzipiell in Ordnung. In meiner Not hatte ich mich auch dort beworben, aber da hätte es erst zum 1. Dezember geklappt – und ich brauchte den Platz zum 1. August.

Weil Sie den Parteivorsitz übernahmen.

Das war etwas ungeplant und deshalb musste meine Tochter früher in die Kita als gedacht. Im Nachhinein war das aber vielleicht gar nicht so schlecht, weil mit acht Monaten das Fremdeln noch nicht so ausgeprägt war.

Keine Dramen bei der Eingewöhnung?

Natürlich hat sie in den ersten Tagen beim Abgeben geweint und natürlich blutet einem da das Herz. Aber die Betreuerin hat etwas sehr Schönes gemacht: Ein paar Minuten, nachdem ich weg war, hat sie mir ein Foto aufs Handy geschickt, auf dem sie schon wieder lachte. Das hat geholfen. Später habe ich beim Abschied gesagt: „Du weinst zwar jetzt, aber ich weiß, dass du dich amüsierst, sobald ich weg bin – ich habe Beweisfotos.“ Nicht, dass sie das verstanden hätte, aber ich habe dadurch wohl eine Gewissheit ausgestrahlt, die sie wiederum beruhigt hat. Inzwischen habe ich manchmal noch nicht mal ihre Jacke ausgezogen und sie krabbelt schon los.

Die FAZ schrieb im vergangenen Jahr, dass im Vergleich zu dem, was Sie machen, die normale Doppelbelastung einer Mutter ein Schonprogramm sei. Sehen Sie das auch so?

Meine Arbeit bedeutet für mich ja nicht nur Belastung. Im Gegenteil: Ich bin in einer Situation, die ich jedem Beschäftigten wünsche, weil ich während der Arbeitszeit Sachen machen kann, die ich wichtig und richtig finde. Und dann bin ich als Abgeordnete natürlich zumindest finanziell gesehen in einer absolut privilegierten Situation. Hier in Berlin gibt es zum Beispiel einen guten 24-Stunden-Service für Babysitter, und im Notfall kann ich mir den leisten. Viele andere Familien, vor allem Alleinerziehende, können das nicht und sind genauso eingespannt.

Brauchen Sie den Babysitterdienst oft?

Zum Glück nicht. Ich versuche aber auch sehr bewusst, keine Termine nach 16 Uhr anzunehmen. Dass es da auch Ausnahmen gibt, ist klar. Aber mehr als ein-, maximal zweimal pro Woche sollte das nicht sein, sonst nehme ich auch mal einen Ausgleichstag. Es ist oft schwer, konsequent zu sein, vor allem muss man auch mal verständnislose Blicke ertragen können, wenn man sagt: Ich nehme nach 16 Uhr keine Termine mehr an. Und natürlich würde das Ganze nicht funktionieren, wenn mein Mann nicht die Hälfte der Erziehungsarbeit übernähme.

50:50 – heißt das, Sie haben im Alltag genau abgesteckte Arbeitsbereiche?

Nein, es geht vielmehr darum, dass wir uns sehr genau absprechen: Wer holt unsere Tochter an welchem Tag ab? Wer bleibt an welcher Impfstrecke oder U-Untersuchung dran? Wer kümmert sich um die Behandlung der Neurodermitis? Das war die Hiobsbotschaft zum Ende des Jahres. Den Silvestertag haben wir in der Kinderklinik zugebracht, weil sie plötzlich einen Schub hatte.

Und der Job Ihres Mannes erlaubt das?

Mein Mann ist Wissenschaftler und wir teilen uns die Familienarbeit hälftig. Der Rest ist – da bitte ich um Verständnis – seine Privatsache. Nur so viel: Generell sind in der Wissenschaft befristete und damit prekäre Jobs die Norm. Ich finde aber auch, dass es junge Väter im Berufsleben oft schwerer haben als Mütter. Wenn Väter mal früher gehen wollen, hören sie sofort den Satz: Muss das denn sein? Das gilt gerade auch für Politiker.

Erleben Sie das oft so?

Wir Abgeordnete bekommen ja keine Elternzeit, mit dem Argument, dass wir gewählt worden sind und deshalb niemand unseren Arbeitsplatz einnehmen kann. Frauen haben immerhin eine Mutterschutzzeit und auch während der Stillzeit gibt es ein gewisses Verständnis dafür, dass man weniger da ist. Für junge Väter gilt das nicht. Sie werden somit faktisch gezwungen, wichtige Phasen der Familienarbeit nach der Geburt zu schwänzen. Das ist ein falsches Signal, weil ja gerade Politiker eine Vorbildwirkung haben sollten, um veraltete Rollenbilder zu durchbrechen. Die Elterngeldregelung müsste auch für Abgeordnete und Minister gelten. Dann wird die Diät deutlich reduziert, dafür kann man sich einige Zeit ganz um das Neugeborene kümmern.

Apropos Rollen: Reagieren ältere Parteikollegen anders auf Sie, seitdem Sie Mutter und damit endgültig nicht mehr das „junge Mädchen“ sind?

Ich bin mit 21 in den sächsischen Landtag gewählt worden, damals war ich sicher noch „die Junge“, aber seitdem hatte ich mit den führenden Männern der Partei zu häufig inhaltliche Konflikte, als dass sie mich noch als das „freundliche Mädchen“ abtun könnten. Eigentlich haben alle in der Partei sehr verständnisvoll reagiert. Auch als ich nach der Geburt für drei Monate eine Auszeit genommen habe, weil ich komplett stillen wollte.

Meinen Sie, Andrea Nahles oder Kristina Schröder stoßen auf ähnliches Verständnis?

Das weiß ich nicht. Ich habe auf jeden Fall schon mal mit beiden bei zufälligen Begegnungen darüber gesprochen, dass es auch politikfreie Zeiträume geben muss. Es geht ja nicht nur darum, dass du selbst diszipliniert genug bist, um deinen Arbeitstag zu begrenzen, sondern auch um die Frage des kulturellen Standards. Wenn die Erwartungshaltung ist, dass alle 70 Stunden arbeiten, haben wir ein Problem. Verschiedene Gespräche mit anderen Eltern haben mich darin bestärkt, noch energischer auf die Notwendigkeit von Arbeitszeitverkürzung hinzuweisen.

Kann man sagen, dass bei Politiker-Müttern wie Ihnen der Familienalltag immer auch eine politische Dimension bekommt?

Kristina Schröder hält das Private ja völlig raus aus der Politik. Ich habe dafür volles Verständnis, auch weil es für sie als Ministerin einer konservativen Partei vermutlich um einiges schwieriger ist als für mich. Ich versuche auch, meine Familie zu schützen und nehme meine Tochter nicht mit ins Plenum, weil es dort Kameras gibt. Ich finde, dass sie irgendwann selbst entscheiden muss, ob sie ihr Gesicht in den Medien sehen will oder nicht. Aber gleichzeitig habe ich ein Interesse daran, dass darüber diskutiert wird, wie Eltern Beruf und Familie in Einklang bringen können. Unser Ziel muss doch sein, dass sich Rollenbilder und kulturelle Standards dauerhaft verschieben, dass im Leben von Männern und Frauen gleichermaßen Raum ist für Erwerbsarbeit, für Familienarbeit, für politische Einmischung und für Muße.

Macht man als Mutter anders Politik?

Einerseits wird alltäglicher Knatsch bedeutungsloser. Und natürlich verändert sich der Blick, wenn man nicht mehr nur abstrakt für eine nachkommende Generation Politik macht, sondern auch für die eigene Tochter. Da werden manche Dinge zentraler – und ich reagiere auf einiges sensibler. Als der Prozess gegen Pussy Riot in Russland lief, dachte ich sofort: Da werden Mütter von ihren Kindern getrennt! Früher wäre ich „nur“ politisch auf ihrer Seite gewesen, aber jetzt springt gleich noch eine emotionale Dimension mit an.

Wenn Sie in Ihrem Wahlkreis in Dresden sind, leben Sie wie früher in einer WG. Fällt Ihnen die Umstellung schwer, wenn Sie aus Berlin dorthin kommen?

Überhaupt nicht. Ich lebe dort mit guten Freunden zusammen. Eine Mitbewohnerin hat einen Hund, und dann gibt es noch eine Familie, deren Kind nur drei Monate älter als meine Tochter ist. Von ihr ist sie schwer begeistert und guckt sich alle Marotten ab.

WG klingt nach Studentenzeit. Schaffen Sie es dort, auch so auszugehen wie früher?

Die durchtanzten Abende sind seit der Wahl zur Parteivorsitzenden noch deutlich weniger geworden. Ich muss solche Termine fest in meinem Kalender einplanen. In Dresden gibt es eine Disco, in die ich mit einer Freundin sogar während der Stillzeit gegangen bin. Wir kannten den DJ und wenn wir auftauchten, hat der sofort angefangen, Hits zu spielen. Wir haben dann anderthalb Stunden durchgetanzt und waren pünktlich zur nächsten Mahlzeit wieder zu Hause. Das Hauptproblem für Eltern ist allerdings der wenige Schlaf. Mein Wecker weckt mich am nächsten Morgen ganz unerbittlich.

Was hilft dann gegen Müdigkeit?

Einfach anfangen zu arbeiten. Dann ist die Müdigkeit schnell vergessen und erst am Abend bemerke ich sie wieder – oder an den Augenringen im Spiegel.

Ihr Mann ist nicht in der DDR aufgewachsen. Macht sich das bei der Kindererziehung bemerkbar?

Kaum, eher bei kleinen Kindheitserinnerungen: Mein Mann mag zum Beispiel die Figuren der Sesamstraße. Ich kann damit nichts anfangen. Dafür wollte ich meinen Kindern immer meine Plastik-Indianer vererben. Leider sind sie dem Hochwasser in Dresden zum Opfer gefallen, weil der Keller meiner Eltern geflutet wurde. Während der Schwangerschaft habe ich in einem Antiquariat das Buch „Mohr und die Raben von London“ gekauft, das bekannteste Kinderbuch über Marx. Das hat mich als Kind sehr geprägt.

Und womit haben Sie gerne gespielt?

Mit Indianersachen und manchmal habe mich verkleidet – komplett unemanzipatorisch – als Prinzessin mit Diadem.

Es wäre also auch okay für Sie, wenn Ihre Tochter später in eine rosa Phase kommt?

Wir fördern das nicht gerade: Unser Kinderwagen ist blau und auch bei Klamotten muss es nicht unbedingt rosa sein. Aber wenn sie irgendwann mit Prinzessinnenkleid und Diadem ankommt, ist das auch in Ordnung. Ich würde ihr allerdings auch den Indianerfederschmuck dezent daneben legen, vielleicht ändert sie ihre Meinung ja.

Was wünschen Sie sich sonst für die Zukunft Ihrer Tochter?

Was sich alle Eltern wünschen: Gesundheit, dass sie ein selbstbewusster und glücklicher Mensch wird. Und noch eins: Ich habe mal gehört, dass 90 Prozent der Kinder die politische Richtung ihrer Eltern einschlagen, aber zehn Prozent in die Totalopposition gehen. Natürlich würde ich mir wünschen, dass sie in dieser Frage eher zu den 90 Prozent gehört.

Und nicht in die FDP eintritt.

Mal sehen, ob es die dann überhaupt noch gibt.